Jürgen Saalwächter
Saalwächter

Reden

Rede von Jürgen Saalwächter vor Mitarbeitern der SPOERLE Gruppe im Oktober 2004 anlässlich der Sitzung des "Ausschuss International" der IHK Offenbach und Unternehmensvertretern der IHK Darmstadt, die kurz zuvor stattgefunden hatte.

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Ausschuss International hat sich zum Ziel gesetzt, den Erweiterungsprozess der EU kritisch zu begleiten. Deswegen haben wir uns auf der letzten Sitzung des Ausschusses mit dem Thema des EU-Beitritts der Türkei beschäftigt und unsere Sitzung kurzerhand bei der Dogan Media Group International in Mörfelden einberufen, bei der wir freundlicherweise zu Gast sein durften.

Die Dogan Media Group beschäftigt mehr als 100 Mitarbeiter und investierte in den letzten Jahren über 25 Millionen Euro in modernste Drucktechnik. Vom Standort Rhein-Main werden 21 Länder in Europa sowie die USA und Kanada mit Printmedien beliefert. Mit Sicherheit haben Sie alle schon mal etwas von der türkischen Tageszeitung "Hürriyet" gehört, die in Mörfelden produziert wird.

Was viele auf den ersten Blick vielleicht nicht vermuten - und das ist anders als in den meisten deutschen Unternehmen - es steht eine Frau an der Spitze dieser Firma.

Die Veranstaltung begann mit der Begrüßung durch Frau Boduroglu und Herrn Weinbrenner und wurde mit einer Rede von mir und Herrn Sahin, dem Präsidenten der türkisch-deutschen IHK, fortgesetzt. Meine Rede habe ich Ihnen alle mal kopiert. Wenn Sie also Interesse haben, können Sie sich diese einmal durchlesen. (Text der Rede)

Ich möchte Ihnen nun einen kurzen Überblick verschaffen, welche Problematik bezüglich des Türkei-Beitritts momentan diskutiert wird und anfangs kurz auf die Rede von Kemal Sahin eingehen, deren Inhalt mich sehr beeindruckt und mir zugegebenermaßen neue Perspektiven zum Nachdenken aufzeigte. Er schaffte es sehr anschaulich, beide Völker zu charakterisieren und Synergien aufzuzeigen, wo sich die Deutschen und die Türken ergänzen, beziehungsweise wo sie noch voneinander lernen können.

Nach Herr Sahin sind die Deutschen sehr direkt und pünktlich. Sie nehmen ihre Arbeit sehr genau und sind bei dem, was sie leisten, sehr gewissenhaft und zuverlässig. Deutsche denken prozessorientiert, rational, sind gehorsam und fleißig... zumindest wird es ihnen nachgesagt, auch wenn ein Blick in die Nettoarbeitszeit-Statistik etwas anderes verrät. Der Deutsche ist sehr sicherheitsliebend, geht nur ungern Risiken ein und ist in seinem Wesen sehr konservativ.

Was Kemal Sahin damit sagen will, ist, die Deutschen bringen alle Eigenschaften mit, die das produzierende Gewerbe benötigt. Nicht umsonst haben sich in Deutschland z.B. die größten Automobil- und Maschinenbauer angesiedelt, nicht umsonst ist Deutschland nach dem 2. Weltkrieg zu dem Industriegigant gewachsen, der er heute (noch) ist.

Was die Deutschen jedoch weniger charakterisiert - und das müssten viele von uns bestätigen, wenn wir uns an die eigene Nase fassen - ist die Servicebereitschaft und Offenheit. Auch meint Herr Sahin, dass wir nicht unbedingt bekannt sind für unsere Gastfreundschaft! Nun, ich komme viel in der Welt rum und würde das nicht zu weit von uns wegweisen können.

Ich bin mit ihm der Meinung, dass es bei vielen von uns mittlerweile auch an Risikobereitschaft, Einsatzwille und Einsatzbereitschaft fehlt, die uns noch in den 50er, 60er und 70er Jahren ausgezeichnet hat... zumindest endet diese bei vielen, wenn es an den eigenen Besitzstand geht - von der beschämenden Rolle der Familie in der heutigen Gesellschaft brauchen wir erst gar nicht zu reden.

Diese eben aufgezählten Charakteristika werden eher von den Türken besetzt und weniger vom "Deutschen Michel", der von Jahr zu Jahr an Bedeutung im Mittelstand verliert - oder kennen Sie eine deutsche Würstchenbude, die im Gegensatz zum türkischen Kollegen gegenüber 14 Stunden am Tag geöffnet hat und bei der auch alle Familienmitglieder kräftig mithelfen, damit das Geschäft läuft?

Die Türken verstehen sich als Unternehmer. Wussten sie beispielsweise, dass die türkische Wirtschaft zu 90% aus mittelständigen Betrieben besteht? Ich wusste das nicht, woher auch? Deutschland - und hier sprach mir Kemal Sahin aus tiefsten Herzen - verlässt mehr und mehr den Mittelstand. Die Wirtschaft wird von Jahr zu Jahr globaler. Seine Schlussfolgerung lautete daher: "Wir können uns wirtschaftlich ergänzen". Eine sehr verheißungsvolle Idee, wie ich gerne zugebe.

Aufgrund meines Alters könnte ich allerdings hiervon nicht mehr profitieren, da ich wohl oder übel bis zu meinen Renteneintritt in einem globalen Unternehmen arbeiten darf. Man spricht davon, dass der Beitritt der Türkei zur EU frühestens in 15 Jahren vollzogen werden könnte. Auf der anderen Seite hätte auch niemand erwartet, dass bereits 11 Monate nach dem Mauerfall Deutschland wiedervereinigt ist - und vor diesem Hintergrund könnte eine eventuelle Aufnahme der Türkei schneller vonstatten gehen, als sich das manche vorstellen. Wer weiß das schon heutzutage?

Laut Kemal Sahin würde ein Beitritt ungeahnte Synergieeffekte auslösen. Das, was viele Europäer zurückschrecken lässt - dass die Türkei geographisch betrachtet zum größten Teil in Asien liegt - sieht er als Vorteil! Die Begründung liegt auf der Hand: nicht nur durch enge historische und kulturelle Bindung hat die Türkei exzellente Kontakte in die islamische und arabische Welt! Die wirtschaftliche Beziehung zu den Ländern im Nahen Osten würden sich bei einem Beitritt spürbar verbessern, auch wenn an dieser Stelle nicht verschwiegen werden darf, dass die meisten Ausländer, die dieser Tage im Irak verschleppt werden, türkische Staatsbürger sind.

Lassen Sie mich jedoch jetzt mal auf immer wieder diskutierte Pro und Kontra- Argumente eingehen, die bei einer seriösen Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht minder wichtig sind. Ganz oben auf der Tagesordnungsliste steht dabei die Migrationsdebatte. Mit 70 Millionen Einwohnern und einem hohen Bevölkerungszuwachs wird in 20 Jahren die Türkei der bevölkerungsreichste Staat in Europa sein wenn wir mal die Russische Förderation außen vor lassen.

Die Gegner eines EU-Beitritts befürchten eine Dominanz der Türkei bei politischen Entscheidungen und eine Schwemme von Einwanderern. Befürworter halten dem entgegen, dass der Anteil an der Gesamtbevölkerung in der EU nur 15% betragen wird.

Herr Sahin meint dazu, dass die Türkei gar nicht so viele Millionen Menschen versteckt haben kann, die dann in die restlichen EU Staaten einwandern würden. Davon mal abgesehen würde die türkische Wirtschaft von einem Beitritt so stark profitieren, dass durch den Anstieg der Durchschnittseinkommen viele Bürger im Land bleiben und sogar viele Türken in die Heimat zurück kehren würden! Ähnliche Erfahrungen wurden ja auch schon bei dem Beitritt Griechenlands und Portugals gemacht, die seinerseits ebenfalls kritisch beäugt wurden.

Doch unabhängig davon: Deutschland wird sich in spätestens 10 Jahren ohnehin mit einem großen Strukturproblem konfrontiert sehen. Unsere Gesellschaft wird immer älter und da würde der deutschen Wirtschaft die Zuwanderung - nicht nur junger Türken - sehr gut tun.

Ein weiteres, sehr hitzig diskutiertes Thema ist die Vereinbarkeit westlicher und islamischer Werte. Es wird häufig argumentiert, das diese nicht miteinander vereinbar seien. Doch vergessen wir nicht seit mehr als 80 Jahren hat die Türkei einen Weg der Modernisierung eingeschlagen, der von Jahr zu Jahr schneller wird und bei einem Eintritt die Sicherheit Europas stärken und nicht schwächen würde.

Abgesehen davon: die Abkapselung der westlichen Welt vom Islam wird uns nicht dabei helfen, den Terror zu bekämpfen... und zu verhindern schon gar nicht. Bei einem Beitritt der Türkei würde sich das Land mehr nach dem Westen orientieren und quasi die Union gegenüber dem Islam stabilisieren. Wenn auch jetzt die Türkei Europa noch nicht versteht - in 12 Jahren wird dies ganz anders sein! Eine Aufnahme der Türkei könnte mehr Sicherheit und Frieden für alle bringen... und die Wirtschaft investiert lieber in sichere und friedliche Regionen als in Krisengebiete... das versteht sich von selber.

Ein weiterer Gegenstand in dieser Diskussion ist auch immer wieder die geographische Ausdehnung der EU. Wo liegen die Grenzen Europas, wo die der Gemeinschaft? Diese Frage ist noch weitestgehend ungeklärt, doch meines Erachtens wäre es falsch, sich auf die geographische Definition von Europa zurückzuziehen, denn dann dürften Frankreichs Überseegebiete, wie z.B. Französisch-Guayana, eine 91.000 qm große Landfläche zwischen Brasilien und Surinam, auch nicht zur Union gehören, obwohl sie fest in die Gemeinschaft integriert sind... oder die mit der EU assoziierte Inselgruppe Niederländisch Antillen vor der Küste Venezuelas, die immerhin über 218.000 Einwohner zählt. Viel mehr Einwohner hat Luxemburg auch nicht.

Was viele vergessen ist zudem die Wurzel unserer Kultur. Noch heute sind unzählige Bräuche, Sitten und Werte durch Rom und das alte Griechenland geprägt. Allerdings haben die Römer und Griechen in der Antike nicht nur die Germanen, Goten und Gallier auf den Bäumen besucht, sondern auch Gebiete in der heutigen Türkei. Historiker wissen, dass vieles aus der antiken, europäischen Geschichte auch auf türkischen Boden stattfand. Byzanz - das spätere Konstantinopel und heutige Istanbul - nannte man im Altertum nicht umsonst "Nea Roma" - also Neu Rom. Bis zum Untergang Ostroms im Jahre 1453 lebte hier das antike Reich weiter.

Kommen wir zum letzten, großen Punkt: die Kosten der Erweiterung. Das Ost-West-Gefälle zwischen dem unterentwickelten Anatolien und dem industriell geprägten Westen der Türkei weckt zu Recht die Befürchtung, dass die EU große Transferzahlungen im Agrarbereich und aus dem Kohäsionsfond leisten müsste. Man spricht von 28 bis 30 Milliarden Euro!

Das hört sich viel an... doch sind wir mal ehrlich, was sind 28 Milliarden in zehn bis 15 Jahren? Gerade vor kurzem wurde dem Irak 80% der Gesamtschulden in Höhe von 92 Milliarden Euro erlassen. Zugegeben, die Umstände sind nicht miteinander vergleichbar, doch Geld ist Geld und da wäre es falsch, mit zweierlei Maß zu messen. Meine Damen und Herren, wie immer Sie zu einem EU-Beitritt der Türkei stehen, eines steht fest: Auf dem Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs am 17. Dezember dieses Jahres wird ein Datum zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen genannt. Man rechnet mit dem Beginn der Verhandlungen im 2. Halbjahr 2005. Ich bin mir sicher, alle die von mir heute angesprochenen Themen und Reizpunkte werden auch dann auf der Tagesordnung stehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Anhang:

Außereuropäische Gebiete, die der EU angehören

  • Französisch-Guayana (91.000 km2, Landmasse im Nordosten
    Südamerikas, französisch)
  • Guadeloupe (und die ihr administrativ zugeordneten Inseln Saint Martin
    und Saint-Barthelemv, Inseln in der Karibik, französisch)
  • Martinique (Insel in der Karibik, französisch)
  • Reunion (Insel im Indischen Ozean, östlich von Madaqaskar, französisch)
  • Madeira und Azoren (Inselgruppen im Atlantik, portugiesisch)
  • Kanarische Inseln (im Atlantischen Ozean, westlich von Marokko, spanisch)
  • Ceuta und Melilla (spanische Exklaven auf dem afrikanischen
    Kontinent an der marokkanischen Mittelmeerküste)

Gebiete, die mit der EU in Assoziation stehen

  • Falklandinseln (südlicher Atlantik nähe Feuerland, britisch,
    wird von Argentinien beansprucht)
  • St. Helena (mitten im südlichen Atlantik, britisch)
  • Montserrat (Karibik, französisch)
  • Britische Junqferninseln (Karibik, britisch)
  • Turks- und Caicosinseln (Atlantik, britisch)
  • Aruba (Atlantik, niederländisch)
  • Bermuda (Atlantik, britisch)
  • Anquilla (Atlantik, britisch)
  • Kaimaninseln (Karibik, britisch)
  • Französisch-Polynesien (in Ozeanien, zahlreiche Inseln und
    Inselgruppen, französisch)
  • Clipperton-Insel (Ozeanien, von Französisch-Polynesien
    verwaltet, französisch)
  • Neukaledonien (Pazifik, französisch)
  • Pitcairninseln (Pazifik, britisch)
  • Niederländische Antillen (Inseln in der Karibik vor Südamerika,
    niederländisch)
  • St. Pierre und Miquelon (Inseln nahe Neufundland, französisch)
  • Mavotte (Indischer Ozean, von Komoren beansprucht, französisch)
  • Tschagosinseln (Indischer Ozean, französisch)
  • Iles Eparses (Indischer Ozean, französisch)
  • Wallis und Futuna (Pazifik, französisch)

Gebiete, die unter der Verwaltung von Mitgliedsländern der EU stehen, aber der EU nicht angehören

  • Isle of Man (Irische See) und die Kanalinseln (Ärmelkanal),
    da sie durch die Britische Krone direkt verwaltet werden
  • Südgeorgien und die Südlichen Sandwichinseln
    (südöstlich von Feuerland, britisch, von Arqentinien beansprucht)
  • Färöer (Nordmeer, dänisch)
  • Grönland (Nordamerika, dänisch, 1985 aus der EU ausgetreten)

 
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